Der „Dornauszieher“

Spinario – Palazzo dei Conservatori (Musei Capitolini)

Zu den wohl bekanntesten und berühmtesten Knaben-Skulpturen seit der Antike gehört der „Spinario“, der „Dornauszieher“: ein nackter Junge, auf einem Stein sitzend, der versucht, sich aus dem linken Fuß einen eingetretenen Dorn herauszuziehen. Sein Kopf ist zu den beiden Händen und dem linken Fuß herabgesenkt, die Haare erscheinen sorgfältig frisiert und fallen lockig in den Nacken. Die Skulptur stammt aus agusteischer Zeit, das Original befindet sich im Konservatorenpalast in Rom. Der „Dornauszieher“ hat nicht nur zahlreiche Nachbildungen gefunden, sondern ist auch literarisch geworden.

Den Konservatorenpalast besuchte im Jahr 1848 auch der Schriftsteller und Historiker Adolf Stahr und studierte zunächst die kapitolinische Wölfin, die er als recht furchteinflößend empfand. „In demselben Zimmer steht die bekannte Bronzestatue des Knaben, der sich einen Dorn aus dem Fuße zieht. […] Der Knabe aber ist ganz entzückend. Er sitzt auf einer schmalen Unterlage, das linke Bein über das aufgestemmte rechte gelegt. Mit der linken Hand hält er den leidenden Fuß, so daß dessen Platte sich ein wenig aufwärts biegt, und mit der rechten verrichtet er seine Operation. Der Moment ist der, wo er den quälenden Splitter so eben gefaßt hat, und im Begriffe ist, ihn mit den drei Fingern leise und möglichst schmerzlos herauszuziehen, und an dem Ausdrucke seines Gesichts sieht man deutlich, daß es ihm gelingt.“ (Adolf Stahr, Ein Jahr in Italien – 1848)

Thomas Barker, A boy extracting a thorn from his foot (1810)

Aber wen soll die Skulptur darstellen? Ist es ein Hirtenjunge, der sich einen Dorn aus dem Fuß zieht, vielleicht höfisch überformt, wie geschrieben wurde? Greift sie ein mythologisches Motiv auf? Stahr denkt an eine Alltags-Darstellung: „An diesem Kunstwerke vor Allem kann man lernen, wie die Alten den allereinfachsten Gegenstand, das alltäglichste Motiv zum Ausdrucke höchster Kunstschönheit zu machen gewußt haben.“

Bento Barbosa, Menino tirando espinho do pé (1897)

Der Schriftsteller Christoph Hein nennt eine Person der Mythologie; in seiner Erzählung „Das goldene Vlies“ beschreibt er den jungen, ausnehmend schönen Phrixos: „Phrixos war noch ein Kind und keine vierzehn Jahre alt, doch alle, die ihn sahen, glaubten einen menschgewordenen Gott zu sehen, so vollkommen erschien er einem jeden. […] Die Maler und Bildhauer in Megara und ganz Megaris schienen in einem Wettstreit zu sein, den Königssohn darzustellen, so viele Bilder und Statuen gab es von Phrixos. Der Knabe wurde stehend abgebildet und laufend, im sportlichen Kampf und beim Baden, mit Tieren und Blumen wurde er gemalt, und auch vom Schlafenden gab es einen Marmorstein. Über Megaris hinaus wurde eine Plastik bekannt und berühmt, die Phrixos nachbildete, wie er sich einen Dorn aus dem Fuß zog.“

A propos menschgewordener Gott: Der Schriftsteller und Kunsthistoriker Alfred Neumeyer erinnerte sich an eine Begebenheit zu Anfang des 20. Jahrhunderts, als er in München zur Schule ging: „Es war auf dem Schulausflug in der ersten Klasse Gymnasium, ich war zehn Jahre alt. Wir machten einen Wettlauf in Gruppen. Ich stehe neben dem dicklichen Lateinlehrer Wolff, der das Zeichen zum Ablauf gibt. Seine starken Brillengläser funkeln.  Den anderen weit voran läuft ein Knabe mit halblangen blonden Locken, und plötzlich höre ich den freundlichen Lehrer begeistert ausrufen: ‚Wie ein griechischer Gott!’ Dieser Ausruf muß mir in die Knochen gefahren sein , wie könnte ich mich sonst heute noch daran erinnern. In der Tat, wenn ich jetzt die Szene zurückrufe, so ähnelt Heinz B., der Enkel eines bedeutenden Archäologen, dem ‚Dornauszieher’, jener ein wenig süßen hellenistischen Knabenfigur mit übereinandergeschlagenen Beinen, die damals tausend Gipsgestalten die Bürgerheime zierte. Etwas von dieser ‚göttlichen’ Schönheit und Leere gehörte dem Wesen dieses meines ersten ‚wirklichen’ Freundes an.“ (Alfred Neumeyer, Lichter und Schatten. Eine Jugend in Deutschland – 1967)

Klaus Mann sah eine solche Abbildung während seiner Schulzeit in der Odenwaldschule bei seinem Erzieher Paulus Geheeb: „An anderen Abenden trafen wir uns in Paulus‘ Studierzimmer mit einigen anderen großen Kameraden. Auf seinem Schreibtisch stand der Dornauszieher-Knabe, dem merkwürdigerweise das Haar nicht ins vorgeneigte Antlitz fällt, und den ich damals als das Symbol aller Anmut empfand …“ (Klaus Mann, Kind dieser Zeit – 1932). Tatsächlich fällt dem Knaben das Haar nicht nach vorn, obwohl er doch den Kopf neigt, sondern so wie bei einer stehenden Figur.

Gustav Eberlein, Dornausziehen (1886)

Auch sein Vater Vater Thomas Mann hat  das in den Nacken fallende Haar des „Dornausziehers“ beschrieben; als der Schriftsteller Gustav Aschenbach in der Novelle „Der Tod in Venedig“ erstmals den Knaben Tadzio im Hotel am Lido erblickte, muss er an diese Skulptur denken: „Sein Antlitz, bleich und anmutig verschlossen, von honigfarbenem Haar umringelt, mit der gerade abfallenden Nase, dem lieblichen Munde, dem Ausdruck von holdem und göttlichem Ernst, erinnerte an griechische Bildwerke aus edelster Zeit, und bei reinster Vollendung der Form war es von so einmalig-persönlichem Reiz, daß der Schauende weder in Natur noch bildender Kunst etwas ähnlich Geglücktes angetroffen zu haben glaubte. […] Man hatte sich gehütet, die Scheere an sein schönes Haar zu legen; wie beim Dornauszieher lockte es sich in die Stirn, über die Ohren und tiefer noch in den Nacken“ („Der Tod in Venedig“ – 1911).

Der Nürnberger Maler und Lyriker Uwe Wartha hat den „Dornauszieher“ in einem Gedicht beschrieben – und Thomas Manns Novelle gleich mit dazu (Der Dornauszieher, aus: Die Zeit fällt durch den Sand – 2014):

„Zeitlos fällt das volle Haar in die edle Stirn / Ohne Blickkontakt / Was, wenn er im nächsten Moment / Den Dorn zu fassen bekäme / Und scheu lächelnd den Kopf heben und dich / Ansehen würde, wie Tadzio bei Thomas Mann? / Wäre er enttäuscht? //

Du sollst es nie erfahren, ein immerwährendes / Geheimnis, gefangen in kalter Bronze / Der antiken Momentaufnahme / So frage nicht weiter und sei zufrieden / Ohne Blickkontakt

Thomas DeGeorge (1786-1854), Spinario

„Was, wenn er im nächsten Moment / Den Dorn zu fassen bekäme …“, fragt Wartha – und der Jurist und Schriftsteller Ferdinand von Schirach macht diese Frage zum Ausgangspunkt einer Kurzgeschichte (Der Dorn – 2009), in der der Museumswärter Feldmayer nach dem Dorn sucht, den sich der Knabe doch soeben aus dem Fuß zieht, aber nicht findet.

„Er saß jeden Tag mit dem Knaben in der Halle und grübelte. Er stellte sich vor, wie der Junge gespielt hatte, vielleicht Verstecken oder Fußball. ›Nein‹, dachte Feldmayer dann, der darüber gelesen hatte, ›es war sicher ein Wettrennen. Sowas haben die in Griechenland dauernd gemacht. Und dann war der Knabe in einen winzigen Stachel getreten. Es hatte geschmerzt, er hatte nicht mehr auftreten können. Die anderen waren vorausgelaufen, aber er hatte sich auf den Stein setzen müssen. Und dieser verdammte unsichtbare Dorn steckte nun seit Jahrhunderten in dem Fuß und ließ sich nicht herausziehen.“

Noch einmal zurück zu Adolf Stahrs Betrachtung des „Dornausziehers“; er schreibt: „Was erfreut denn hier eigentlich jeden Beschauer? Die volle Versenkung in die Handlung, das ganz bei der Sache sein, das im Größten wie im Kleinsten für die Alten und für Alles, was sie schufen und thäten, so charakteristisch ist.“

Jose Vignatti Caracci (1887-1979), La toilette

Weil die Bewegung nicht zielgerichtet ist, wirkt sie schön. Sie verliert an Reiz, sobald sie zum Zweck wird: Eben diese „volle Versenkung“ ist es, was auch Heinrich von Kleist in seinem berühmten Essay „Über das Marionettentheater“ als Wesen der Anmut beschreibt: Der Jüngling, der sich selbst nach dem Baden in einem Moment der anmutigen Bewegung, in der er dem „Dornauszieher“ glich, im Spiegel sah, stellt bei sich selbst „die Grazie einer Bewegung fest und wird zu einer Wiederholung der Bewegung genötigt. Diese Wiederholung gelingt ihm jedoch nicht mehr, weil die Grazie jetzt Zielpunkt und bewusst gewollter Selbstzweck seiner Bemühungen ist, während ihr Wesen gerade in der unbewussten Sicherheit einer auf ein anderes Ziel gerichteten Unternehmung liegt, so daß sie nur als ungewolltes Nebenprodukt erscheinen könnte“ (Dietmar Skrotzki, Die Gebärde des Errötens im Werk Heinrich von Kleists, 1971).

In einer Zeit der Selfies und der permanenten Selbst-Inszenierung auch schon von Kindern und Jugendlichen bleibt der „Dornauszieher“  immer noch ein Ideal wahrer Anmut.

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