„É un angelo!“

Der Apfel fällt nicht weit vom Baum: Wilhelm von Humboldt, der älteste Sohn des gleichnamigen Gelehrten und Politikers, hatte seine bewundernswerten Anlagen wohl vom Vater geerbt. Auch dieser, der Bruder des Naturforschers Alexander von Humboldt, war als Kind von großer geistiger Veranlagung und von außergewöhnlicher Schönheit, wie Daniel Kehlmann in seinem Roman „Die Vermessung der Welt“ schreibt:

„Der ältere Bruder sah aus wie ein Engel. Er konnte reden wie ein Dichter und schrieb früh altkluge Briefe an die berühmtesten Männer des Landes. Wer immer ihn traf, wußte sich vor Begeisterung kaum zu fassen. Mit dreizehn beherrschte er zwei Sprachen, mit vierzehn vier, mit fünfzehn sieben. Er war noch nie bestraft worden, keiner konnte sich erinnern, daß er je etwas falsch gemacht hätte.“

Frühkindliche Genialität ist ein Motiv dieses Buches, denn auch Friedrich Gauß, der „princeps mathematicorum“, der darin eine wichtige Rolle spielt, setzte schon als Kind seine Umgebung in Erstaunen. (Es passt in diesem Zusammenhang, dass der kleine Friedrich in der Verfilmung von Kehls Roman ebenfalls von einem kleinen Genie dargestellt wurde, Lennart Hänsel.)

Henry Raeburn, Portrait of a girl and a boy (Ausschnitt), ca. 1800-1810

Aber zurück zu Wilhelm von Humboldt und seinen Ältesten, das zweite Kind, das ihm seine Frau Karoline 1794 in Jena gebar und das seinen Namen erhielt. Er unterrichtete Wilhelm selbst, „trennte sich nur ungern von ihm, und beide Eltern beobachteten still die wunderbare Entwicklung dieses Knaben. ‚Es ist mein bestes Kind, ich fühle es’, hatte Karoline schon gesagt, da sie ihn noch auf den Armen trug. Kräftig, trotzig und wild, wie man einen Knaben zu sehen wünscht, so war er. Dabei von einer engelhaften Schönheit, einer süßen Zärtlichkeit. Seine Begabung, seine Auffassungsgabe, seine Anmut überraschten immer wieder nicht nur die Eltern, sondern alle, die ihn sahen.“ (Die Familie Humboldt: nach den Familienpapieren von Wilhelm und Karoline von Humboldt und ihrer Tochter Gabriele – 1932)

Gottlieb Schick, Die Humboldt-Kinder (Ausschnitt: Wilhelm)

Die junge Wilhelm war so ergreifend schön, dass die Frauen auf den Straßen die Mutter selig priesen und riefen: „é un angelo!“ – „Karoline hatte eine außerordentliche Empfänglichkeit für das Schöne, und eine Sinnlichkeit, die Natürlichkeit und Reinheit glücklich vereinigte, war ihr zuteil geworden. Sie sah in den sinnlichen Gestalten eine immerfort neu entzückende Aussprache eines göttlichen Lebens. Sie wurde tief bewegt von der Schönheit in aller Natur; aber nichts ergriff sie tiefer als die menschliche Gestalt. Sie sieht etwas Heiliges und Geheimnisvolles in der Schönheit ihres Knaben Wilhelm, sie ist entzückt von der Anmut der kleinen Mädchen. Der kleine Wilhelm, in dem sie Verstand mit Gemüt und Schönheit vereinigt fand, der selbst die Großmutter so ausnehmend lieb gewonnen, wurde vollends ihr Augapfel. Aber wie bricht dann der Schmerz in tausend Flammen aus ihrer Seele, damals als in dem neunjährigen Wilhelm das Wunder, die Schönheit und die Wonne der Familie entrissen wurde.“

Gottlieb Schick, Karoline von Humboldt mit Sohn Theodor

Das war in Rom, wo die Familie wohnte, nachdem der Vater preußischer Gesandter beim Heiligen Stuhl geworden war. Am 15. August 1803 nachmittags starb der neunjährige Wilhelm; dann war das Leben seines jüngeren Bruders Theodor wochenlang in Gefahr. „Beide Knaben waren, während die Eltern gerade in der Stadt verweilten, plötzlich in Ariccia von einer Fieberkrankheit ergriffen worden. Wilhelm starb trotz aller Anstrengungen des ausgezeichneten Arztes Kohlrausch, der den Humboldts ausnehmend ergeben war. Humboldt fand bei seiner Ankunft den eben Verschiedenen. Wie kurz vor dem Ausbruch des Anfalls der Bruder der Königin Luise, der für Karoline begeisterte Prinz Georg von Mecklenburg, Wilhelms Schönheit in einer Art von Verklärung beobachtete, so leuchtete sie auch noch im Tode sozusagen überirdisch, als er dem Bruder rief: ‚Venite Teodoro alla piramide’. Die Mutter schauerte bei diesen Worten zusammen, die an den Friedhof bei der Pyramide des Cestius erinnerten, wo der Knabe dann in der Tat zur Ruhe gebettet wurde.“ (Albrecht Stauffer, Karoline von Humboldt in ihren Briefen an Alexander von Rennenkampff – 1904)

„Sein Tod war sanft, er hatte fröhliche Phantasien, litt nicht und ahnte nichts. Er liegt jetzt bei der Pyramide am Scherbenberg, von der Ihnen Goethe erzählen kann“, schrieb Humboldt später an Friedrich von Schiller.  Auf dem Scherben- oder Schuttberg – dem Testaccio – wurden all diejenigen beigesetzt, die nicht in geweihter Erde ruhen durften, auch die Protestanten. Und die Beisetzung durfte nicht am Tage geschehen, sondern musste in der Nacht bei Fackelschein erfolgen.

Bartolomeo Pinelli, Nächtliche Bestattung an der Cestiuspyramide

Cimitero Acattolico wird der Friedhof genannt. Hier steht auch die Marmor-Pyramide, die sich Caius Cestius, der Zeitgenosse von Kaiser Augustus, erbauen ließ. Neben Wilhelm liegt auch noch ein anderer Sohn der Humboldts hier bestattet, Gustav, der 1807 starb. Zwei abgebrochene Säulen sind ihre Gedenkmonumente.

Noch ein anderes Monument erinnerte Karoline an Wilhelm: Thorvaldsens Hirtenknabe. „Als sie das Werk sah, rührte sie die Ähnlichkeit mit ihrem schönsten Kinde – eines von jenen Kindern, die wie Erscheinungen aus einer anderen Welt anmuten und früh wieder in eine andere Welt übergehen zu müssen scheinen.“

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