Bahnhofs-Begegnung

Im kühlen Speisesaal des Bahnhofes wurde das Dejeuner serviert, der Zug hatte eine Stunde Aufenthalt. Außer uns nahm nur noch eine sehr interessante Familie daran teil. Sie bestand aus einem Elternpaar, zwei Töchtern und zwei Söhnen. Eine junge, fein und damenhaft aussehende Bonne nahm auch mit teil am Frühstück; sie saß neben den Söhnen, schenkte ihnen Wein ein, bediente sie gewissermaßen, sprach wenig und sehr leise und respektvoll mit ihnen; mir war einmal, als ob sie den Älteren mit „Monseigneur“ anredete.

Henry O. Walker, Mrs. William T. Evans and her Son

Das Haupt der Familie war ein hochgewachsener, schöner blonder Mann, eine stolze, aristokratische Erscheinung. Dasselbe war auch die ältere Dame, die zwischen ihren beiden lieblichen Töchtern saß, alle drei in den ausgesucht einfachsten, aber mit feinster Eleganz zusammengestellten Reiseanzügen. An die Damen reihten sich die beiden Söhne.

Der ältere sah unbedeutend aus, aber der jüngere, etwa vierzehnjährige, der uns gegenüber zu sitzen kam, war ein entzückender Knabe; er hatte ideal schöne Züge, eine reine, geistausstrahlende Stirn, überschattet von reichem Goldhaargelock, eine feingeformte Nase und tiefblaue Augen, aus denen Verstand, Güte und Energie sprachen.

Er trug wie sein Bruder die dunkle Tuchjacke und den großen, weißen Umschlagkragen feiner englischer Knaben, der einen herrlichen Hals und Kopfansatz sehen ließ. Er war von ausgesucht feinem Benehmen, er reichte uns zu, was zufällig unsere Augen suchten – das Brot, die Wasserflasche – er war völlig bedacht, unsere Wünsche zu erraten, ja u n s zu bedienen, während jene Bonne fortwährend ihn und seinen Bruder ehrfurchtsvoll bediente.

Antonio Mancini, Il signorino

Ich konnte mich an dem schönen, offenen, edlen Gesicht des Knaben gar nicht satt sehen. Wie gerne hätte ich herausgebracht, wer sie alle waren und wie sie hießen. Der schöne Jüngling kam mir vor, als wäre er Frankreichs Zukunft,  einer jener Orleans oder Bourbons, auf welche der Flébure in Nimes wie auf den Messias hofft. Ich bin es überzeugt: Der Knabe wird etwas Großes, er ist zu ungewöhnlich, oder er stirbt jung. Nach dem Essen verloren wir die Familie aus den Augen. […]

Endlich ertönt die Abfahrtspfeife. Ehe wir ins Coupé steigen, sehe ich mich nach dem schönen Knaben um. Am Ende des Zuges sehe ich die Bonne neben einem Berg von Koffern, die Familie erscheint und steigt fern von uns in ihr reserviertes Coupé. Ich habe ihn wohl zum letzten Mal gesehen! (Rosa von Henneberg-Gerold, Augenblicksbilder aus meiner Erinnerung – 1904)

 

In der Bahnhofsgaststätte. Ein literarisches Menü in 12 Gängen, herausgegeben von Guido Fuchs,

Verlag Monika Fuchs, Hildesheim 2018, 260 S. Euro 17,50 (ISBN 978-3-947066-65-0)

 

Das könnte dich auch interessieren …